Freitag, 11. April 2014

Emma denkt


Vom Luxus Zeit zu haben

Schon Einstein wusste: Zeit ist relativ. Und auch wenn ich diese Erfahrung nun bereits seit einigen Jahren, ja gar Jahrzehnten mache, bin ich immer wieder auf’s Neue überrascht, wie dehnbar zeitliche Konstanten sind. Wenn man beispielsweise plötzlich erschrocken innehält und sich fragt, wie es bloss hatte passieren können, dass die letzten zehn Jahre an einem vorbeigezogen sind, als wären sie Rotkehlchen, die Ende Oktober gen Süden fliegen. Oder aber umgekehrt, wenn sich Minuten in die Länge ziehen, als wären sie klebriger Kaugummi und man das Gefühl hat, alt und grau zu werden, während man auf irgendetwas wartet – oder mit etwas beschäftigt ist, das einen langweilt.

Das Paradoxe ist, wir befinden uns irgendwie ständig zwischen den Extremen, was die liebe Zeit angeht. Entweder wir haben keine, sind unheimlich busy und wünschten uns nichts mehr, als ein kleines bisschen davon - wertvolle Extrastunden, um endlich mal all das tun zu können, was wir schon seit Ewigkeiten aufschieben. All die Bücher zu lesen, die sich auf dem Nachttisch stapeln, sich mit der alten Schulfreundin zum Kaffeetrinken zu verabreden, zuhause Frühlingsputz zu machen, einen Pullover selbst zu stricken, mal wieder ins Kino / Theater / die Oper zu gehen, das Wohnzimmer zu streichen... die Liste wäre beliebig verlängerbar.

Wenn wir dann aber mal nicht gestresst und in Zeitnot sind und tatsächlich ein wenig Zeit hätten, sind wir dennoch nur selten mit all den oben genannten Dingen beschäftigt, fröhlich vor uns hinsummend und rundum zufrieden. Wir fühlen uns vielmehr völlig überfordert von der plötzlichen Leere, die da vor uns liegt, wie ein kristallklarer Bergsee im schimmernden Mondlicht einer sternenklaren Nacht. Und so springen wir meist gar nicht erst jauchzend hinein in den metaphorischen See – in die leeren Stunden oder gar Tage, die es mit Leben zu füllen gilt – sondern sitzen verloren da und wissen nichts mit uns anzufangen.

Vielleicht, da wir es schlicht und einfach verlernt haben, Zeit zu haben – Zeit, die nicht möglichst sinnvoll, rationell oder produktiv eingeteilt werden muss, sondern während derer man sich einfach mal zurücklehnen und von hier nach da, von jetzt nach gleich, zickzack oder im Kreis bewegen darf. Spontan machen kann, was einem einfällt und wonach man sich gerade fühlt. Ganz egal, was es bringt. Ob es Sinn macht. Meist beginnen die Ideen doch zu sprudeln und die Tat- und Schaffenskraft zu sprühen, sobald man sich von den Zwängen befreit, jede Minute seines Lebens zu planen und »sinnvoll« nutzen zu wollen.

Ich persönlich erlebe die zufriedensten Momente in Situationen, in denen ich die Zeit vergesse, kein Gefühl mehr dafür habe, wie lange eine Minuten oder Stunde dauert, wie viel davon bereits vergangen ist und wie viel mir noch bleibt. Ganz einfach, weil ich komplett in einer Beschäftigung aufgehe, total bei der Sache – und somit auch bei mir selbst bin. Dabei spielt es keine Rolle, ob ich ein Buch über Astrophysik lese, das lang ersehnte Gemüsebeet im Garten anlege oder im Stadtpark auf einer Bank in der Sonne sitze, über Gott und die Welt nachdenke und so einen ganzen Nachmittag vertrödle.

Ich glaube, angesichts des mitunter immensen Tempos unseres Alltags, täten wir gut daran, die Zeit nicht in jeder Sekunde unseres Lebens kontrollieren zu wollen. Denn das können wir nicht – dem Himmel sei dank. Und ist es nicht eigentlich ein ebenso schönes wie beruhigendes Gefühl, dass dieselben zehn Minuten einen je nach Situation oder Befinden glücklich machen können – ganz egal wie man sie verbringt? Ob sonntagmittags auf dem Sofa dösend, den Kochherd blitzblank schrubbend, mit geschlossenen Augen Musik hörend, eine verschneite Schlittelpiste hinuntersausend, Postkarten schreibend, in den Armen des oder der Liebsten tagträumend, die Lieblingsserie im Fernsehen schauend, mitten in der Nacht an einem Projekt arbeitend, das einem wirklich am Herzen liegt...

Lasst uns nicht dauernd grämen über die Zeit, die wir gern hätten, jedoch vermeintlich nicht haben, sondern hie und da und immer mal wieder einfach irgendetwas tun, was uns ganz spontan Freude bereitet. Uns gut tut. Auch wenn das bedeutet, ab und zu mal einfach gar nichts zu tun. Ohne Langeweile und ohne schlechtes Gewissen. Einfach bloss sein. Dann merken wir vielleicht, dass wir ja durchaus Zeit haben, immer hatten und auch immer haben werden.

Zeit ist, was man daraus macht. Wie man sie erlebt. Wohin sie einen führt oder auch nicht - und immer wieder auch: wie sehr man währenddessen ist.


(https://www.facebook.com/emmadenkt)

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